Schweiz

«Die Schulen werden ideologisch durchtränkt»

Der neue Rahmenlehrplan für Gymnasien will die Welt verbessern. Kritiker warnen vor Indoktrination, einige Kantone üben bereits Opposition

von Nadja Pastega, Journalistin der SonntagsZeitung

(5. April 2024) Mit Lesen, Schreiben und Rechnen ist es schon lange nicht mehr getan. Schulen bekommen immer mehr Aufgaben. Für die Schweizer Maturitätsschulen liegt jetzt der Entwurf für einen neuen Rahmenlehrplan vor. Er ist 136 Seiten lang. In einer früheren Version waren es sogar 400 Seiten.

Nadja Pastega.
(Bild Tagesanzeiger)

Neu wird das Fach «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» (BNE) verankert. Oberstes Ziel laut Lehrplan: die «Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft». Dabei gehe es nicht nur um den Schutz des Klimas und der Biodiversität, sondern es sollen auch «Rassismus, soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten oder unfaire Verteilungen zwischen den Geschlechtern» bekämpft werden.

Gegen diese Ziele für eine gerechte Welt kann niemand etwas haben. Die Frage ist aber, wie diese erreicht werden sollen – und wie das an den Schulen umgesetzt wird. Und hier beginnen für Alain Pichard, Mitglied der Grünliberalen im Berner Kantonsrat und bis zu seiner Pensionierung der bekannteste Lehrer der Schweiz, die Probleme.

(Bild zvg)

Lehrkräfte dürfen Schülern ihre Meinung nicht aufzwingen

«Die Aufgabe der Schule ist es, Wissen zu vermitteln, um die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, sich im Sinne von mündigen Bürgern ein eigenes Urteil zu bilden», sagt Pichard. Stattdessen würden im neuen Lehrplan Haltungen als Kompetenzen definiert, die beurteilt und benotet werden müssten. «Damit entwickelt sich unser Bildungssystem in eine gefährliche Richtung, die in eine totalitäre Umerziehung münden kann.»

An den Schulen gilt ein Indoktrinationsverbot, Lehrerinnen und Lehrer dürfen den Schülern ihre Meinung nicht aufzwingen. Zudem müssen sie politische Themen kontrovers behandeln. Es müssen also gegensätzliche Positionen behandelt werden. Doch der Gymi-Lehrplan ist durchdrungen von politischen Botschaften und bestimmten Themen – anderes wird einfach weggelassen. So sollen die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel über den Treibhauseffekt und die Sonnenenergie reflektieren. Atomenergie wird nicht erwähnt.

Der Lehrplan ist durchsetzt mit Floskeln, die eher an ein Parteiprogramm als an objektive Themenfelder erinnern: «gerechte Gesellschaft», «planetare wie auch soziale Belastungsgrenzen», «intra- wie auch intergenerationelle Gerechtigkeit», «Menschen aller Geschlechteridentitäten», «ganzheitlich», «transformativ», «sozialökologische Transformation».

Lehrplan: «Tendenziös formuliert»

In der Anhörung zum neuen Rahmenlehrplan äusserten sich einige Kantone kritisch zum Fach BNE. «Es handelt sich offensichtlich um eine politische Agenda», hielt Luzern fest. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich warnte, dass das Prinzip der politischen Neutralität von Schulen «nicht aktiv beeinflusst» werden sollte, gewisse Formulierungen seien daher «zu überprüfen». Obwalden zieht das Fazit: «Zu tendenziös formuliert.» Auch der Kanton Aargau und die Schulleiterkonferenz der Zürcher Mittelschulen sind mit den BNE-Bestimmungen im neuen Lehrplan «gar nicht einverstanden».  

Das neue Regelwerk ist Teil der Reform «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität», das die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) zusammen mit dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) auf den Weg gebracht hat. Dabei geht es an sich darum, den Matura-Abschluss schweizweit vergleichbar zu machen und die Studierfähigkeit sicherzustellen, damit Universitäten und Hochschulen mit Aufnahmeprüfungen keine eigenen Eintrittshürden hochziehen.

Lucius Hartmann, Präsident des Vereins der Schweizer Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, befürwortet die neuen Richtlinien: «Es ist unbestritten, dass es einen neuen Lehrplan braucht. Das, was heute gilt, stammt aus dem Jahr 1994.» Die Gymnasien müssten nicht nur für die Hochschulreife ihrer Absolventen sorgen, sondern auch für eine «vertiefte Gesellschaftsreife». Die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft sei in der Bundesverfassung vorgegeben, «daher ist ihre Vermittlung in der Schule notwendig».

Er verweist auf eine Studie des Kantons Aargau, die ergeben habe, dass sich die Lehrpersonen in der Schule mehrheitlich politisch neutral verhielten. Diese Umfrage gab der Kanton in Auftrag, um eine Maturarbeit von drei Gymnasiasten zu kontern, die aufzeigte, dass unter den Lehrern ein «Linksdrall» herrscht. Der Kanton vermarktete das Studienergebnis als Persilschein. Doch in der Studie kam auch heraus, dass sich viele Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer politischen Einstellung benachteiligt fühlen.

Bereits der Begriff «vertiefte Gesellschaftsreife» sorgt für Kritik. «Was heisst das denn?», fragt Mario Andreotti, Germanist und Historiker. «Dass ich mich auf der Strasse festklebe für den Klimawandel?» Er unterrichtete 38 Jahre an Gymnasien und ist Verfasser des Buchs «Eine Kultur schafft sich ab», das kritisch auf die Schulreformen der letzten Jahre eingeht.

Politiker delegieren Konflikte an die Schulen

«Aus der Formulierung in der Bundesverfassung lässt sich kein Erziehungsauftrag für die Schulen ableiten», sagt Bildungspolitiker Pichard. Eine gerechte Welt sei schon immer ein hehres Ziel gewesen, bei dem sich wirtschaftliche und andere Interessen gegenüberstehen würden. «Es gibt den Trend, dass die Politik diese Konflikte an die Schulen delegiert», sagt Pichard. «Die Schulen werden zunehmend ideologisch durchtränkt.»

«Neusprech aus den pädagogischen Mode-Laboratorien», sagt Pichard dazu.

Auch die Sprache des neuen Lehrplans wird kritisiert. Da ist die Rede von Interdisziplinarität und Transdisziplinarität, von transversalem Unterricht und transversalen Kompetenzen, von transversalem Einbezug der Digitalität, von curricularen Primär- und Sekundärstrukturen. Oder konkret:

«Fachlicher und überfachlicher Kompetenzerwerb aus einer transversalen Sicht erfolgt dann, wenn didaktisch domänenspezifisches und -übergreifendes Wissen zum Erkennen von Zusammenhängen und zur Lösung von fachlichen wie gesellschaftlichen Problemen in relevanten Funktionsbereichen angewendet wird.»

«Fachchinesisch» nennt es Andreotti. «Neusprech aus den pädagogischen Mode-Laboratorien», sagt Pichard dazu.

Für die Umsetzung des Rahmenlehrplans, der im August in Kraft tritt, sind nun die Kantone zuständig. Das Regelwerk gilt für alle Gymnasien in der Schweiz.

Quelle: «SonntagsZeitung», 18. Februar 2024
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)

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