«Gut zuhören und sich mit der anderen Meinung auseinandersetzen»

Ein Gespräch mit Dr. med. Josef Widler,* Zürich

von Dr. med. Sabine Vuilleumier

(27. Oktober 2021) Der renommierte Allgemeinpraktiker Josef Widler zeigt sich besorgt über die Gräben, die zwischen «Geimpften» und «Ungeimpften» geschaffen werden und legt seine Sicht zum Umgang mit der Pandemie dar. – Der «Schweizer Standpunkt» im persönlichen Gespräch.

Wir treffen Dr. Widler, nachdem der Bundesrat am 13. September die Covid-Zertifikatspflicht für die ganze Schweiz verschärft hat. Wer nicht geimpft, genesen oder getestet ist, hat keinen Zutritt mehr zu Innenräumen von Restaurants, Theater, Kinos und vielen weiteren Orten des öffentlichen und auch privaten Lebens. Josef Widler ist damit nicht einverstanden: «Ich hätte den liberalen Weg gewählt und es zum Beispiel den Restaurants überlassen, ob sie von ihren Gästen ein Zertifikat verlangen wollen oder nicht. Ein Wirt in einem kleinen Dorf auf dem Land hat andere Gäste als ein Wirt in der Stadt. Wirte und Gäste hätten sich so frei entscheiden können.»

Selbstverantwortung statt Angsterzeugung

Die Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger ist für ihn ein zentrales Element in der Bewältigung der Pandemie. Am Anfang habe man genau gesagt, was jeder Einzelne – Herr und Frau Schweizer – zum eigenen und dem Schutz des Anderen beitragen kann: Abstand von 1,5 m einhalten, nicht länger als ¼ Stunde ungeschützter Kontakt, Innenräume gut lüften und eine gute Händehygiene – das sind 4 Massnahmen, die jede(r) anwenden kann. Dieser Ansatz, was der Einzelne selbst machen kann, sei aber immer weiter in den Hintergrund «gerutscht». «Heute sagt der Geimpfte dem Ungeimpften, was er zu tun hat und umgekehrt. Jeder soll aber bei sich anfangen und sein Risiko abwägen.»

In diesem Sinne hat er auch das Personal der von ihm betreuten Altersinstitutionen intensiv geschult – Flyer mit Parolen würden nichts bringen. Neben den genannten 4 Massnahmen hat er allen – vom Pflege- über das Küchen- bis zum Reinigungspersonal – erklärt, dass ihr Verhalten in der Freizeit darüber entscheide, ob sie das Virus in die Institution mitbringen oder nicht. Sie hätten es gut verstanden und so gewusst, wie sie die Bewohnerinnen und Bewohner vor einer Ansteckung schützen können. Besuchsverbote und Plastikscheiben hat es nur im Lockdown gegeben, unter bestimmten Auflagen wurde Weihnachten gefeiert, auch ein Sommerfest. Seine Kritik am Umgang mit Menschen in Alters- und Pflegeheimen ist deutlich. Er stellt das menschliche Bedürfnis nach sozialen Kontakten in den Vordergrund: «Was nützen mir die Lebensjahre, wenn ich sie nicht leben darf?»

Auch wenn Josef Widler keinen Zweifel daran lässt, dass er die Impfung gegen Covid-19 für ungefährlich und wirksam hält, will er die Entscheidung zur Impfung dem Einzelnen überlassen. Im eingangs erwähnten Interview sagt er, dass Menschen, die den «Königsweg» der Impfung nicht gehen wollten, im Krankheitsfall genau so selbstverständlich gepflegt werden müssen, wie erkrankte Raucher oder Menschen, die zuviel Alkohol trinken würden. Dies entspricht der ärztlichen Ethik, die in der Behandlung von Patientinnen und Patienten nicht fragt, ob eine Erkrankung selbstverschuldet sei und keine Diskriminierung aufgrund eines bestimmten Merkmals zulässt.

Im Gegensatz zur Betonung der Selbstverantwortung habe der Bundesrat von Anfang an mit der Angst geführt und dieses Terrain nicht mehr verlassen. Die Angst habe man mit Bildern von Katastrophen – zum Beispiel den Leichentransportern in Bergamo – erzeugt und damit die jeweiligen Massnahmen begründet. Der erste Lockdown sei sicher richtig gewesen, weil man damals nicht gewusst habe was tun – später hätte man aber unbedingt die Selbstverantwortung wieder an die erste Stelle setzen sollen. Die Angst muss von allen Beteiligten – auch dem Bundesrat und den Epidemiologen – reflektiert werden, um sich von ihr lösen zu können.

(Photo www.josef-widler.ch)

* Dr. med. Josef Widler (1954) ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH und führte während 30 Jahren eine Hausarztpraxis in Zürich. Seit der Übergabe der Praxis an seine Tochter ist er bei ihr in Teilzeit angestellt. Er ist ärztlicher Leiter einer Krankenstation in einem Zürcher Quartier und einer Seniorenresidenz. Von 2005-2011 Gemeinderat (CVP Christliche Volkspartei) der Stadt Zürich, seit 2015 Kantonsrat (CVP, jetzt: Die Mitte). Bis 2003 war er Stabschef Flughafenregiment 4. Seit 2015 ist er Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich (AGZ), seit 2017 Verwaltungsratspräsident der AGZ Support AG und der Aerztefon AG.
Er hat drei erwachsene Kinder und vier Enkelkinder.

Gute Voraussetzungen für eine konstruktive Mitarbeit

Es zeigt sich in dem angeregten Gespräch deutlich, dass Josef Widler die Corona-Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung von Bund und Kantonen ergriffenen Massnahmen unter einem sehr breiten Blickwinkel verfolgt und seinen vollen «Rucksack» nutzt, um helfend mitzuwirken. Seine Standpunkte haben Hand und Fuss und gefallen nicht jedem. Er schätzt sowohl die Auseinandersetzung mit seinen Patientinnen und Patienten als auch mit Fachpersonen und Politikern in verschiedenen Gremien. Dabei ist ihm das Gespräch auf Augenhöhe wichtig. «Zuerst gilt es aufzunehmen, was der andere sagt, um sich dann mit ihm auseinanderzusetzen.» Toleranz und die kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Sichtweisen hat er von guten Vorbildern im Gymnasium der Stiftsschule in Engelberg gelernt. Dort seien Philosophie und Grundlagen der Wissenschaftstheorie wichtige Schulfächer gewesen, was ihm heute noch zugute komme.1

Während seiner 30-jährigen Praxistätigkeit als Facharzt für Allgemeinmedizin in Zürich hat Josef Widler viel Fachwissen und Fähigkeiten in allen Bereichen der Medizin erworben. Führungserfahrung hat er in der Schweizer Armee als Bataillonskommandant und Stabschef des Flughafenregimentes gewonnen sowie seit 2015 als Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich (AGZ) mit ihren über 6000 Mitgliedern. Er bestätigt, dass die AGZ in engem Kontakt mit der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich steht und dort die Sichtweise der ärztlichen Praxis einbringt. Zu seinem Rüstzeug für eine konstruktive Mitarbeit in der komplexen Pandemiefrage kommt noch die politische Erfahrung hinzu: als Gemeinderat in der Stadt Zürich (Legislative auf Ebene der Stadt) von 2005–2011 und seit 2015 als Kantonsrat (Legislative auf Kantonsebene) für die CVP («christliche Volkspartei», vor kurzem zu «Die Mitte» umbenannt).

Mangelhafte Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Ärzten

Vieles im Zusammenhang mit der Pandemie sei so kommuniziert worden, als ob es gesicherte Erkenntnisse seien. Josef Widler ist mit dieser Art der Kommunikation nicht einverstanden: «Wenn wir ganz ehrlich sind, sind wir mit gesicherten Aussagen knapp. Zum Beispiel: Wie lange hält der Impfschutz? Das sehe ich dann in 5 Jahren, in 10 Jahren – heute sind es Hypothesen.» Er hat bei der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich dafür plädiert, auch Unsicherheiten zu kommunizieren, dann muss man später nicht widerrufen und das Vertrauen in die Informationen ist grösser. Zum Beispiel, dass man mit ½ Jahr Impfschutz rechnet und dann schaut, ob das stimmt, statt zu sagen, der Impfschutz dauere genau 1 Jahr!

Auch bei den PCR-Corona-Tests sieht er eine problematische Seite: «Die Tests sind nicht gemacht, um Gesunde zu finden. Die Vortestwahrscheinlichkeit wird nicht beachtet: Je eher ich von den Symptomen her davon ausgehen kann, dass jemand erkrankt ist, desto zuverlässiger ist der Test. Je breiter getestet wird, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit eines korrekten Resultates.» Wird eine Erkrankung immer seltener und wird gleichzeitig breit getestet, so gibt es immer mehr Menschen, die falsch positiv getestet werden und die entsprechenden Konsequenzen tragen müssen.

Seine Vorschläge für ein gutes Contact-Tracing, der Nachverfolgung von Kontakten positiv Getesteter, sind in den Wind geschlagen worden. Die Entscheidung, dass Ärzte in der Praxis testen dürfen, ist an einem Freitag gefallen – am folgenden Montag konnte mit dem Testen begonnen werden. Die rechtzeitige Beschaffung des Schutzmaterials war damit fast unmöglich, die Praxisärzte wurden einmal mehr unter Handlungsdruck gesetzt.

«Hausärzte, Psychiater, Kinderärzte haben in der schwierigsten Zeit geholfen, das System zusammenzuhalten – das liest man selten. Wir haben die Grundlast getragen.» Die fachliche Basis wird in den politischen Entscheidungen nicht mitgenommen. Josef Widler bezeichnet dies als «Helikoptereffekt»: man sieht nicht, was unten wirklich passiert, man hat die Bodenhaftung verloren. «Um gut führen zu können, muss man – so habe ich dies im Militär gelernt – bis ‹ganz unten› gut zuhören und das Gehörte in die Entscheidungen einbeziehen.»

Zur Mitarbeit im kantonalen Pandemiestab wurde er nicht aufgeboten. Den gewählten Epidemiologen und Spitalärzten sei es dann vor allem darum gegangen, dass die Intensivpflegestationen nicht überlastet würden – im übrigen nicht die einzige Grösse, die es dem Bundesrat in der bestehenden «besonderen Lage» gemäss Epidemiengesetz erlaube, die aktuellen Massnahmen zu verordnen. Mit Blick auf die Sterblichkeit an Covid-19 denkt Josef Widler, man müsste eher das Rauchen verbieten, als die aktuellen Einschränkungen für die ganze Gesellschaft durchzusetzen.

Die Versorgung konnte gewährleistet werden – und soll erhalten bleiben

«Wir hatten die Pandemie medizinisch immer im Griff – dank unserem teuren und gut ausgebauten Gesundheitssystem. Es musste niemand abgewiesen werden, die Versorgung konnte immer gewährleistet werden.» Der Erhalt des schweizerischen Gesundheitssystems, eines der anerkanntermassen weltweit besten, ist Josef Widler ein Herzensanliegen.

Die politischen Bestrebungen im Rahmen der «Kostendämpfungsmassnahmen» des Bundesrates sind ihm wie auch der FMH, der eidgenössischen Standesorganisation der Ärztinnen und Ärzte, ein Dorn im Auge. Besonders stossend ist dabei eine «verbindliche Zielvorgabe hinsichtlich Kostenwachstum», was einem Globalbudget für ambulant erbrachte Leistungen entspricht. Hat die Ärztin/der Arzt eine bestimmte Menge an «Kosten verursacht» – die heute bei Ökonomen und Krankenkassen gängige Beschreibung medizinischer Behandlungen – so darf sie/er nicht weiter arbeiten. Dies bedeutet eine versteckte Rationierung medizinischer Behandlungen: Patientinnen und Patienten haben nur noch begrenzten Anspruch auf das medizinisch Notwendige.

Die Ärztegesellschaft des Kantons Zürich mit ihrem Präsidenten Josef Widler hat in diesem Zusammenhang 2019 eine Studie in Auftrag gegeben mit Fragen an die Bevölkerung und die Ärzteschaft. Ausgangspunkt war die Feststellung: «Die Schweizer Gesundheitspolitik beschränkt sich seit einigen Jahren fast ausschliesslich auf Prämienpolitik und Kostensparen. Es drohen Gesundheitsreformen, die an den Wünschen und Ansprüchen der Menschen vorbeigehen.» Die Studie fragte nach den Ansprüchen der Bevölkerung und der Ärzteschaft an die Gesundheitsversorgung, ob die Bedürfnisse der Patienten und das Angebot der ambulanten Versorgung übereinstimmen, wie die Arztpraxis, die Versorgungslandschaft der Zukunft aussehen muss, damit Patientenbedürfnisse erfüllt sind und sich Ärzte in dieser Arbeitswelt wiederfinden sowie der Frage, wie dies mit den Trends und politischen Vorhaben im Gesundheitssystem zusammen passt.

Eine erste Erkenntnis aus der Studie könnte man als selbstverständlich bezeichnen, würde die politische Entwicklung nicht genau dies gefährden: «Eine gute Arzt-Patienten-Beziehung und Zeit sind für die Bevölkerung ausschlaggebend für eine gute Versorgung. Patientinnen und Patienten fühlen sich gut versorgt, wenn ihre Ärzte ihre Anliegen ernst nehmen, sie genügend Zeit für die Beratung haben, die Ärzte ihre Beschwerden aus ganzheitlicher Sicht betrachten, die Ärzte sie umfassend informieren und sie in Behandlungsentscheidungen involvieren. So möchte eine Mehrheit von zwei Dritteln lieber in Entscheidungen einbezogen werden, als dass die Ärztin oder der Arzt ihnen diese Entscheidung ganz abnimmt.»2

Es gäbe noch viel zu diskutieren, doch Josef Widler muss seinen eng getakteten Tagesablauf einhalten. Wichtig ist, dass seine Reflexionen im Umgang mit der Pandemie in der Politik auf mehr positives Echo stossen und soziale Spannungen damit abgebaut werden können.

1 Die Stiftsschule Engelberg liegt im Innerschweizer Kanton Obwalden. Sie schreibt auf ihrer Homepage: «Unsere Pädagogik beruht auf unserer benediktinischen Tradition: Wir fördern unsere Schülerinnen und Schüler darin, zu konflikt- und konsensfähigen Persönlichkeiten heranzuwachsen, bereit, Neues zu lernen, ein Leben lang. Besonders durch das Zusammenleben im Internat führen wir zu einem Verständnis – und zum Einsatz –  für die Anliegen der Gemeinschaft. Dies ist uns ein wichtiges Ziel in der Persönlichkeitsbildung.» https://www.stiftsschule-engelberg.ch. – Josef Widler ist Präsident des Altengelberger Vereins, um mitzuhelfen den humanistischen Geist zu erhalten – auch Kinder aus weniger bemittelten Familien sollen diese Möglichkeit der Bildung bekommen.

2 https://aerzte-zh.ch/pdf/news/2020/Summary_AGZ_INFRAS-Studie_Ansprueche%20an%20aerztliche%20Versorgung_Maerz2020.pdf

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