Russophobie ist Rassismus – genau wie Antisemitismus

von Guy Mettan,* Genf

(6. Juni 2025) Es war zu erwarten, dass der 80. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 8. und 9. Mai dieses Jahres Anlass für eine Welle russophober Hassausbrüche gegen Russen und Russland sein würde. Die gröbsten Beleidigungen wurden zwar vermieden, denn es war schwierig, auf die 27 Millionen Toten zu spucken, die die Sowjetunion geopfert hat, um Europa vom Nationalsozialismus zu befreien.

Guy Mettan
(Bild zvg)

Aber es wurde alles getan, um sie zu verharmlosen, beiseitezuschieben und die Gedenkfeierlichkeiten am 9. Mai auf dem Roten Platz zu verunglimpfen, indem die Geschichte umgeschrieben wurde, um die Rolle der westlichen Alliierten auf Kosten der anderen, insbesondere Russlands und Chinas, hochzuspielen. Diese Operation der Kulturabwertung und des Geschichtsrevisionismus ist typisch für die pathologische Russophobie, von der die europäischen Eliten derzeit befallen sind.

Diese Russlandfeindlichkeit hat sich mit dem Beginn der Friedensgespräche zwischen Russen und Ukrainern in Istanbul keineswegs gelegt, sondern ist sogar noch gewachsen.

Man könnte meinen, dass dieses Verhalten durch den Krieg und die «russische Aggression» hervorgerufen wurde. Aber das ist nicht einmal wahr. In einem 2015 veröffentlichten und in acht Ländern übersetzten Buch, darunter Italien,1 habe ich gezeigt, dass der Hass auf Russland, ebenso wie der Hass auf die Juden, religiöse Wurzeln hat und auf die Spaltung zwischen der katholischen und der orthodoxen Christenheit zurückgeht, die im 9. und 10. Jahrhundert begann und 1054 zum Bruch führte. Von diesem Zeitpunkt an und mit den Kreuzzügen als Beschleuniger des Hasses entwickelte der Westen – der ein römisch-germanisches Reich gegen das Oströmische Reich aufbauen wollte, indem er die Trennung von den anderen christlichen Patriarchen förderte – seine Abneigung gegen den christlich-orthodoxen wie auch muslimischen Orient.

Kloster zu «Mariä Tempelgang von Tolga» an der Wolga bei Jaroslawl,
gegründet 1314 mit Befestigungsanlagen aus dem 17. Jhdt. Seit 1987
erneut als Frauenkloster aktiv. (Bild jpv)

Nach dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453 richtete sich dieser antiorthodoxe Hass gegen Russland, das sich als Erbe Byzanz' verstanden hatte. In den Schriften römischer Theologen und Propagandisten finden sich dieselben drei Themen wieder, die auch heute noch aktuell sind: Russland sei

1. ein Land von Untermenschen und Barbaren,

2. von blutrünstigen Tyrannen regiert,

3. die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Europa zu erobern und seine unschuldigen Bewohner zu unterwerfen.

In der Neuzeit griff das Frankreich Ludwigs XV. und später Napoleons diese Propaganda auf und schuf ein gefälschtes Dokument, ein «Fake», das sogenannte Pseudotestament Peters des Grossen, in dem der Gründer des modernen Russlands seine Nachfolger aufgefordert haben soll, Europa zu erobern. Napoleon nutzte es 1812, um seinen Einmarsch in Russland zu rechtfertigen. Aber nach 1815, als die Briten und Russen Napoleon besiegt hatten, wurde diese Fälschung ins Englische übersetzt und in London veröffentlicht, wo sie als Grundlage für die Propaganda diente, die die britischen Imperialisten fortan gegen ihren ehemaligen russischen Verbündeten entwickelten, um 1853 die Krim zu erobern und während des gesamten 19. Jahrhunderts das zu entfalten, was die Geschichte als das Grosse Spiel gegen das russische Reich in Zentralasien bezeichnet.

Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Russophobie in Deutschland, um dessen koloniale Expansion nach Russland (und in die seit 1654 russische Ukraine) zu rechtfertigen: der berühmte «Drang nach Osten», den Hitler ab 1933 wieder aufgriff. Im Jahr 1945, als die Sowjetrussen und die Amerikaner während des Krieges gut zusammengearbeitet hatten, wanderte die Russophobie schliesslich in die USA, wo sie unter dem Deckmantel des Antikommunismus zu einer der Triebkräfte des Kalten Krieges wurde.

Erlöserturm des Kremls in Moskau. Mauer und Türme des Kremls
gehören zu den ältesten Bauwerken der Stadt. Der ganze Komplex
wurde im 15. Jhdt. von italienischen Architekten erbaut. (Bild jpv)

Die Konfrontation war hart, wenn auch nicht militärisch. Logischerweise hätte sie mit dem Fall des Kommunismus in Russland verschwinden müssen. Doch dem war nicht so, und die Russophobie blühte mit der Machtübernahme Putins wieder auf, obwohl dieser Präsident Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 seine Hilfe angeboten und den Amerikanern erlaubt hatte, Stützpunkte in Zentralasien zu errichten, um Afghanistan anzugreifen.

Der Rest ist bekannt: Trotz unzähliger Warnungen, Verhandlungsangebote und unterzeichneter Verträge wie Minsk II ignorierte der Westen die russischen Bedenken und Forderungen und finanzierte die russophobsten Randgruppen der ukrainischen Zivilgesellschaft, indem er 2004 und 2014 dort farbige Revolutionen organisierte.

Russophobie ist eine Form des Rassismus, die fast so alt ist wie der Antisemitismus und dieselben religiösen Wurzeln hat. Sie hat auch dieselben katastrophalen Folgen für die Bevölkerungsgruppen, die ihr zum Opfer fielen und weiterhin fallen.

Der Holocaust war ein Verbrechen, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Aber was ist mit den 17 Millionen sowjetischen Zivilisten, die von den Nazis ermordet wurden? Rein quantitativ gesehen sind sie dreimal so zahlreich wie die Opfer des Holocaust. War ihr Leiden, als sie als Erste die von den Nazis entwickelte Todesmaschine «testen» mussten, etwa weniger gross? Und was ist mit den Millionen Witwen, Waisen, Brüdern und Schwestern, Kriegsverletzten, die diesen Schrecken überlebt haben?

In den Gedanken und Schriften Hitlers, der seine Opfer immer wieder als «jüdisch-bolschewistisch» bezeichnete, waren Slawen nicht besser als Juden. Wir wollen uns nicht daran erinnern, aber es ist die traurige Wahrheit.

Und in gewisser Weise ist Russophobie ein schlimmerer Rassismus als Antisemitismus, da sie heute nicht als abscheuliche Handlung anerkannt ist und weiterhin in den höchsten Kreisen der europäischen Politik und des Journalismus praktiziert wird. Zensur, kultureller Boykott, Absagen an Autoren, Verachtung, Geschichtsverfälschung, Diskriminierung, Wirtschaftssanktionen und Handelsboykott, Jagd nach Bankkonten und Dämonisierung alles Russischen sind Praktiken, die denen der Nazis gegen die Juden in den 1930er Jahren in nichts nachstehen. In der Ukraine werden sogar die Leichen sowjetischer Soldaten exhumiert, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben.

Und das geschieht heute, ohne dass sich irgendein Gericht, irgendein Gesetz oder irgendeine Nichtregierungsorganisation, die sich um «Menschenrechte» kümmert, dies zum Thema macht. Wie in den 1930er Jahren ist dieser Hass allgegenwärtig: Er wird in allen sozialen Schichten verbreitet, und noch mehr in den Führungskreisen der Politik, der Medien, der Kirchen und der Armee, als wäre es etwas Normales, Alltägliches, Selbstverständliches. Man kann einen Russen verbannen, ihn entrechten, beleidigen, durch den Dreck ziehen, ohne dass dies in einem Europa, das sich selbst als Vorbild der Zivilisation betrachtet, auch nur den geringsten Skandal auslöst.

Die Geschichte wird über die Verantwortlichkeiten für den Krieg in der Ukraine urteilen, genauso wie sie über die Verbrechen urteilen wird, die in Palästina mit der Komplizenschaft unserer Regierungsvertreter begangen wurden. Aber sie wird auch streng über diejenigen urteilen, die Russophobie benutzt und missbraucht haben, um den Kriegszustand aufrechtzuerhalten und die Wiederherstellung eines echten Friedens in Europa so lange wie möglich hinauszuzögern.

Dieser Text wurde zuerst von der italienischen Online-Tageszeitung Pluralia.com veröffentlicht.

* Guy Mettan (1956) ist Politologe, freischaffender Journalist und Buchautor. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der «Tribune de Genève» und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Guy Mettan ist seit 20 Jahren Mitglied des Genfer Kantonsparlaments.

1 «Russie-Occident. Une guerre de mille ans», Delga 2024 (3. Auflage). «Creating Russophobia», Clarity Press, USA, 2017.

Zurück