Das Dilemma Europas: Kopf oder Herz?

Kishore Mahbubani (Photo
https://mahbubani.net)

von Kishore Mahbubani,* Singapur

(13. Juli 2021) Zwischen den USA und China ist ein grosser geopolitischer Wettstreit ausgebrochen. Dies ist nicht überraschend. Immer wenn die aufstrebende Weltmacht Nummer eins (heute China) im Begriff ist, die Weltmacht Nummer eins (heute USA) zu überholen, bricht ein geopolitischer Kampf zwischen den beiden aus, wie ich in meinem Buch «Hat China schon gewonnen?» dokumentiere.

Die Wahl von Biden im November 2020 könnte diesen Kampf theoretisch stoppen. Sicherlich wird Biden zivilisierter und höflicher sein, wenn er über China spricht. Kein Politikmachen mehr mit Tweets und Wutausbrüchen. Dennoch kann Biden diesen grossen geopolitischen Wettstreit zwischen den USA und China nicht aufhalten, da es innerhalb des Establishments in Washington DC einen unverrückbaren Konsens gibt, dass die USA den Aufstieg Chinas auf die eine oder andere Weise aufhalten müssen.

Sollte irgendjemand Zweifel daran gehabt haben, dass ein neuer grosser Wettstreit ausgebrochen ist, so wurden diese durch den Anblick des wütenden öffentlichen «Austauschs» zwischen den beiden Seiten in Anchorage, Alaska, im März 2021 beseitigt.

Kulturelle Affinität ist wichtig

Dieser grosse geopolitische Wettbewerb wird auch für andere Länder und Regionen strategische Dilemmata schaffen. Europa, zum Beispiel, wird zwischen seinem Kopf und seinem Herzen hin- und hergerissen sein. Sein Herz gehört eindeutig den USA. Im ersten Kalten Krieg mit der Sowjetunion gab es in Europa eine Konvergenz von Kopf und Herz. Europa hat sich im Kalten Krieg gerne als williger und loyaler Verbündeter Amerikas zur Verfügung gestellt, weil Europa unmittelbar und direkt von den an seinen Grenzen stationierten sowjetischen Panzern und Raketen bedroht war.

Es gab ein hohes Mass an Vertrauen und strategischer Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und europäischen Entscheidungsträgern, untermauert durch enge kulturelle Verbindungen. Es war sehr hilfreich, dass Amerika, Australien und Europa ihre Wurzeln auf ein gemeinsames jüdisch-christliches Erbe und griechisch-römische kulturelle Grundlagen zurückführen konnten. Kulturelle Affinität ist wichtig.

Auch die Geografie ist wichtig

Es wird keine Konvergenz von Kopf und Herz geben, wenn Europa eine Wahl zwischen den USA und China treffen muss. Sein Herz wird bei den USA bleiben. Wenn es jedoch seinen Kopf auf die grossen geopolitischen Herausforderungen ausrichtet, wird es entdecken, dass Geopolitik aus zwei Worten besteht: Geografie und Politik. Geografie ist hier der Schlüssel.

Europa ist mit einer unglücklichen Geografie verflucht. Im 21. Jahrhundert wird Europa nicht von russischen Panzern und Raketen bedroht sein. Die Aussicht auf einen direkten Krieg mit Russland ist praktisch gleich null, auch wenn es in Gebieten wie dem ehemaligen Jugoslawien und der Ukraine zu Stellvertreterkriegen kommen kann. Allerdings ist die Aussicht, dass Europa von Millionen von Migranten, die in kleinen Booten aus Afrika kommen, überwältigt wird, sehr real. Es gibt eine demografische Statistik, die die grösste geopolitische Bedrohung für die Europäische Union klar benennt.

Im Jahr 1950 war die Gesamtbevölkerung der EU (379 Millionen) fast doppelt so gross wie die Afrikas (229 Millionen). Heute ist die Bevölkerung Afrikas (1,2 Milliarden im Jahr 2015) doppelt so gross wie die der EU-Länder (513 Millionen im Jahr 2018). Bis zum Jahr 2100 wird die Bevölkerung Afrikas voraussichtlich fast zehnmal so gross sein: 4,5 Milliarden gegenüber 493 Millionen.

Grafik 1: Top 5 Handelspartner mit (Subsahara-)Afrika, 2018.
Quelle: World Integrated Trade Solutions (WITS), Weltbank

Ein massiver demografischer Wandel in Europa

In den Jahren 2015 bis 2017 kam es in Europa zu einem sprunghaften Anstieg von Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten. Die Auswirkungen auf die europäische Politik waren turbulent. Nachdem die Politik jahrzehntelang von gemässigten Parteien der Mitte (sowohl von links als auch von rechts) dominiert wurde, erlebte Europa einen sprunghaften Anstieg der Unterstützung für extreme populistische Parteien, von denen einige sogar an Regierungen in Ländern wie Österreich, Ungarn, Polen, Italien und Estland beteiligt waren.

Wenn sich die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen auf dem afrikanischen Kontinent im 21. Jahrhundert nicht verbessern, kann Europa damit rechnen, dass Dutzende, wenn nicht Hunderte von Millionen Afrikanern an seine Türen klopfen und ein besseres Leben in Europa suchen werden. Man muss kein Genie sein, um herauszufinden, dass dieser Ansturm von Migranten die soziale und politische Struktur der europäischen Gesellschaften drastisch verändern und Ressentiments in der europäischen Politik hervorrufen wird, die an solch massive demographische Veränderungen nicht gewöhnt ist.

Abbildung 1: Investitionen in die Infrastruktur in Afrika, 2017 Quelle: The Infrastructure Consortium
of Africa (ICAF), «Infrastructure Financing Trends in Africa, 2017»

Europa sollte sich auf die Entwicklung von Afrika konzentrieren

Wenn die Europäer ihre eigenen existenziellen Herausforderungen (die sich aus ihrer geografischen Lage ergeben) in den Vordergrund stellen wollen, sollten sie sich auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Afrikas konzentrieren. Der beste Partner, mit dem man bei der Entwicklung Afrikas zusammenarbeiten kann, ist China. In der Tat hat sich China bereits zum grössten neuen Wirtschaftspartner Afrikas entwickelt. (Siehe Grafik 1 und Abbildung 1.)

Wenn Europa seine eigenen langfristigen Interessen wahren will, sollte es die Entwicklung Afrikas, in Partnerschaft mit China, zu einer unmittelbaren Priorität machen. Das Land, das die meisten afrikanischen Staats- und Regierungschefs zu Gipfeltreffen anlockt, ist China. Das Vernünftigste, was die europäischen Staats- und Regierungschefs tun können, ist, in grosser Zahl am nächsten hochrangigen Treffen der chinesischen und afrikanischen Staats- und Regierungschefs in Peking teilzunehmen. Eine massive Beteiligung der europäischen Staats- und Regierungschefs an einem solchen Gipfel würde ein starkes Marktsignal aussenden. Es könnte eine starke Welle neuer Investitionen in Afrika auslösen. Mit der Zeit wird es mit einer starken afrikanischen Wirtschaft weniger Anreize für eine breite afrikanische Migration nach Europa geben.

Amerika wird dagegen sein

Es gibt nur ein Hindernis für Europa, diese vernünftige Sache zu tun: Amerika wird dagegen sein. Schauen Sie sich nur die Versuche amerikanischer Offizieller an, andere Länder von der Teilnahme an Chinas BRI [Belt and Road Initiative] (eine wichtige Quelle für chinesische Investitionen auf dem afrikanischen Kontinent) abzubringen. Der amerikanische Druck auf seine europäischen Verbündeten wird sicherlich zunehmen, wenn die europäischen Nationen sich entscheiden, mit China zusammenzuarbeiten, um in die Zukunft Afrikas zu investieren.

Es ist jedoch wirklich unklug von Amerika, von den Europäern zu verlangen, dass sie ihre eigenen langfristigen existenziellen Herausforderungen im Umgang mit China ignorieren. Das Aufstreben Chinas stellt keine Bedrohung für Europa dar. Vielmehr könnte es dazu beitragen, Europas langfristige Sicherheit zu verbessern, wenn China die Entwicklung Afrikas fördert. Aus tiefen politischen und historischen Gründen kann Europa die Wünsche der USA nicht ignorieren.

Als die Biden-Administration Sanktionen gegen einige chinesische Beamte wegen ihrer Aktivitäten in Xinjiang verhängte, folgte die EU im März 2021 diesem Beispiel. China haben Vergeltung geübt. Doch diese Sanktionen werden China nicht davon abhalten, für die EU ein viel grösserer Handelspartner zu werden als die USA.

Diese Analyse zeigt deutlich das strategische Hauptdilemma, vor dem Europa in den kommenden Jahrzehnten steht: seinem Herzen zu folgen und sich an die USA zu halten oder seinem Kopf zu folgen und mit China bei der Entwicklung Afrikas zusammenzuarbeiten, um zukünftigen Migrationswellen aus Afrika zuvorzukommen.

Glücklicherweise gibt es eine optimale Lösung. Amerika könnte seine traditionell engen kulturellen und politischen Beziehungen zu Europa beibehalten und dennoch Europa erlauben eine wirtschaftliche Kooperation mit China einzugehen, um Afrika zu entwickeln. In der Tat wurde die Möglichkeit einer engen Zusammenarbeit mit China für eine «Win-Win»-Kooperation bereits einmal von einem ehemaligen hochrangigen amerikanischen Regierungsbeamten, Robert Zoellick, ausformuliert. Er sagte: «Wir müssen China jetzt dazu ermutigen, ein verantwortungsvoller Mitspieler («Stakeholder») im internationalen System zu werden [...] innerhalb eines grösseren Rahmens, in dem die Parteien ein gemeinsames Interesse an der Aufrechterhaltung politischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Systeme erkennen, die gemeinsame Vorteile bieten.»

Gemeinsame Vorteile schaffen

Der Schlüsselbegriff hier ist «gemeinsame Vorteile». Auch wenn die USA von Afrika durch einen riesigen Ozean, den Atlantik, getrennt sind, bleibt die Tatsache bestehen, dass wir heute in einem kleinen, voneinander abhängigen globalen Dorf leben. Die rasche Ausbreitung von Covid-19 in jeden Winkel der Welt sowie die zunehmende Herausforderung der globalen Erwärmung zeigen, dass die gesamte Menschheit vor gemeinsamen globalen Herausforderungen steht. Trotz fortschrittlicher Gesellschaften und hervorragender medizinischer Möglichkeiten haben viele europäische Länder Schwierigkeiten, mit einer dritten Welle umzugehen.

Unter solch katastrophalen Umständen kann Europa wenig tun, um den ärmeren afrikanischen Ländern zu helfen. Chinas Fähigkeit, grosse Dosen von Impfstoffen in afrikanische Länder zu exportieren, hat dazu beigetragen, Covid-19 in Europas Hinterhof zu stabilisieren. Covid-19 hat uns daher daran erinnert, dass zur erfolgreichen Bewältigung gemeinsamer globaler Herausforderungen die gesamte Menschheit, einschliesslich der schnell wachsenden Bevölkerung Afrikas, an Bord kommen muss.

Daher wird eine europäisch-chinesische Partnerschaft, die Afrika erfolgreich entwickelt, bedeuten, dass Afrika effektiver mit den USA zusammenarbeiten kann, um die gemeinsamen globalen Herausforderungen zu bewältigen.

Wir sollten die Nullsummen-Mentalität der geopolitischen Spiele des 19. Jahrhunderts aufgeben und als gemeinsame Menschheit zusammenkommen, um die drängenden und gemeinsamen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzugehen. Eine EU-China-Partnerschaft in Afrika wird ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Quelle: https://mahbubani.net/europes-dilemma-head-or-heart/ vom 5. April 2021
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

* Kishore Mahbubani begann seine Karriere 1971 als Diplomat im Auswärtigen Dienst von Singapur, wo er bis 2004 tätig war, mit Stationen in Kambodscha, Malaysia, Washington D.C. und New York. Er hatte zwei Posten als Singapurs Botschafter bei den Vereinten Nationen und als Präsident des UN-Sicherheitsrats im Januar 2001 und Mai 2002 inne. Von 1993 bis 1998 war Herr Mahbubani ständiger Sekretär des Aussenministeriums von Singapur. Von 2004 bis Ende 2017 war er Gründungsdekan der Lee Kuan Yew School of Public Policy an der National University of Singapore (NUS). Im Juli 2019 wurde er Distinguished Fellow am Asia Research Institute (ARI) der NUS. Er hat zahlreiche Vorträge und Publikationen zu geopolitischen und wirtschaftlichen Themen gehalten. Im Jahr 2013 wählte die Financial Times eines seiner Bücher, «The Great Convergence: Asia, the West and the Logic of One World», zu einem der besten Wirtschaftsbücher des Jahres. Sein neuestes Buch, «Has China Won?», erschien in den USA im April 2020.

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