Überlegungen zu den Ereignissen in Afghanistan

Die Taliban sind die Gewinner der Moskauer Konferenz

M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar*

(5. November 2021) Das Moskauer Treffen von zehn regionalen Staaten und den Taliban am 22. Oktober hat ein Ergebnis hervorgebracht, das die Erwartungen bei weitem übertrifft. Wie aus der nach der Veranstaltung veröffentlichten gemeinsamen Erklärung hervorgeht, besteht bei vier zentralen Punkten Einigkeit:
• Die regionalen Staaten anerkennen die Taliban-Regierung als eine unumgängliche «Realität».
• Die regionalen Staaten sollen durch konstruktive Bemühungen versuchen, die Taliban zu beeinflussen.
• Es soll eine gemeinsame Initiative zur Einberufung einer breit angelegten internationalen Geberkonferenz unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen entstehen.
• Es soll eine starke regionale Unterstützung für die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität Afghanistans aufgebaut werden.

Moskau, 20. Oktober 2021. Begrüssung des stellvertretenden
Premierministers der Taliban-Regierung Abdul Salam Hanafi bei
seiner Ankunft zu den internationalen Gesprächen über Afghanistan.
(Bild keystone/Tass/Sergei Bobylev)

Und dann ist da noch der allgegenwärtige geopolitische Aspekt. Kurz gesagt, die Biden-Regierung hat die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, verloren. In Fox News hiess es: «Die Taliban haben die Unterstützung der wichtigsten US-Gegner gewonnen.»
Zweitens untergräbt diese starke regionale Initiative die westlichen Versuche, Druck auf die Taliban-Regierung auszuüben.
Drittens hat sich Moskau als wichtigster Mentor, Führer und Hüter der kollektiven Interessen der Nachbarn Afghanistans hervorgetan. Die Taliban-Delegation begrüsst dies sehr.
Viertens ist nicht nur jede Form von US-Militärpräsenz in Zentralasien ausgeschlossen, sondern die Staaten der Region sind auch gegen jede ausländische Macht, die die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität Afghanistans verletzt.
Vor dem Hintergrund der Moskauer Konferenz gewinnt schliesslich das neu geschaffene Forum der Aussenminister der unmittelbaren Nachbarn Afghanistans – Pakistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und China – an Zugkraft, um den Weg in die Zukunft zu ebnen.
Das nächste Treffen des Forums ist für den 27. Oktober in Teheran geplant. Es wird eine Präsenz-Veranstaltung in erweiterter Form sein, an der auch der russische Aussenminister Sergej Lawrow teilnehmen wird!
Vor der Moskauer Konferenz hatte sich Lawrow mit der Taliban-Delegation getroffen. Laut dem amtierenden Taliban-Aussenminister Amir Khan Muttaqi «haben wir gute Beziehungen zu Russland. Wir haben verschiedene Themen erörtert, darunter die wirtschaftlichen Beziehungen, den Handel zwischen den beiden Ländern und die Politik der neuen afghanischen Regierung insgesamt, die darauf abzielt, die Lage Afghanistans zu nutzen, um den Handel zwischen den Ländern der Region und letztlich die wirtschaftliche Integration zu fördern.»
Lawrows Eröffnungsrede auf der Konferenz zeugt davon, dass sich Russland heute gegenüber der Taliban-Regierung sehr sicher fühlt. In seinen Worten: «Eine neue (afghanische) Regierung ist jetzt im Amt. Diese harte Tatsache bedeutet eine grosse Verantwortung für die Taliban. Wir nehmen die Anstrengungen zur Kenntnis, die sie unternehmen, um die militärisch-politische Lage zu stabilisieren und das reibungslose Funktionieren des staatlichen Regierungssystems zu gewährleisten. […] Das neue Kräfteverhältnis in Afghanistan, das nach dem 15. August entstanden ist, ist in absehbarer Zukunft alternativlos.»
Unter diesem Gesichtspunkt signalisierte Lawrow: «Wir planen, unsere Fähigkeiten einzusetzen, einschliesslich der Fähigkeiten, die von den Vereinten Nationen, der SOZ [Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit], der OVKS [Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit] und anderen multilateralen Organisationen angeboten werden. […] Wichtig ist, dass sowohl die SOZ als auch die OVKS über einen speziellen Mechanismus verfügen, der vor vielen Jahren geschaffen wurde, um mit Afghanistan zu interagieren und Wege zur Förderung der Stabilisierung in diesem Land zu finden. […] Wir sind mit dem Niveau der praktischen Zusammenarbeit mit den afghanischen Behörden zufrieden. […] Wir sind den afghanischen Behörden für die Unterstützung unserer Journalisten dankbar. […] Wir werden die Geschäftsbeziehungen mit Kabul weiter ausbauen, um dringende bilaterale Probleme zu lösen.»1
Offensichtlich hat sich der Schwerpunkt von der Forderung nach einer «inklusiven Regierung» und der formalen «Anerkennung» auf die zwingende Notwendigkeit verlagert, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Es ist sehr bedeutungsvoll, dass die einflussreiche Politikerin, die die Meinung des Kremls vertritt, Valentina Matviyenko (Sprecherin des russischen Föderationsrates), gestern erklärte:
«Die Taliban sind an die Macht gekommen, sie kontrollieren das ganze Land und es ist notwendig, einen Dialog mit ihnen zu führen, es ist notwendig, sich mit ihnen zu treffen. […] Die Frage der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung ist heute nicht die vorrangige Aufgabe. Ich denke, wenn die Taliban als Ergebnis dieses Dialogs die von mir genannten Bedingungen akzeptieren, nicht nur schriftlich zustimmen, sondern sie auch in die Tat umsetzen, dann wird das natürlich ihre Anerkennung zur Folge haben, da sie heute die eigentliche Macht dort sind.»
Während die USA die Frage der Anerkennung als Druckmittel gegen die Taliban ins Feld geführt haben, hat die Moskauer Konferenz nun die US-Position geschickt untergraben. Die Biden-Regierung wird zunehmend unter Druck kommen, die Sanktionen irgendwann aufzuheben.
Auf der Moskauer Konferenz wurden die USA nachdrücklich aufgefordert, die Kosten für die Finanzierung der humanitären Bedürfnisse in Afghanistan zu übernehmen. Präsident Putin schlug hart zu, als er gestern sagte, dass «die Hauptverantwortung für das, was dort (in Afghanistan) geschieht, den Ländern obliegt, die dort 20 Jahre lang gekämpft haben. Das erste, was sie meiner Meinung nach tun sollten, ist, die afghanischen Vermögenswerte freizugeben und Afghanistan zu ermöglichen, die vorrangigen sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben zu lösen.»
Letztlich hat die Moskauer Konferenz den Weg für eine einseitige Intervention der USA in Afghanistan versperrt – sei es durch Militäroperationen «von ausserhalb der Region» unter dem Vorwand, Terrorgruppen zu bekämpfen, oder sei es durch die Untergrabung der Einheit und des Zusammenhalts der Taliban-Regierung durch verdeckte Operationen mit Hilfe von Gruppen wie der IS (wie in Syrien geschehen), um so ein Alibi für eine zukünftige direkte Intervention zu schaffen.
Paradoxerweise sind die Staaten der Region zu Beteiligten an der Stabilität der Taliban-Regierung geworden. China hat natürlich auf ein solches Vorgehen gedrängt. Möglicherweise sieht Moskau, trotz der gewaltigen Herausforderungen, dass die afghanische Wirtschaft schlussendlich zu einem Wachstumsmotor umgestaltet werden könnte.
In einem kürzlich erschienenen Kommentar der Global Times heisst es: «Afghanistan hat ein starkes Entwicklungspotenzial und es lohnt sich, dort zu investieren […] das Land ist reich an Bodenschätzen […] wenn Afghanistan sich auf den Abbau von Bodenschätzen stützen kann, um die fiskalischen Herausforderungen zu überwinden, wird dies der regionalen Stabilität förderlich sein und Chinas Interessen dienen. Ob chinesische Unternehmen investieren werden, wird weitgehend davon abhängen, ob die Taliban in der Lage sind, die Sicherheit der einheimischen Produktion und des Aufbaus zu gewährleisten, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, für Sicherheit zu sorgen und den Terrorismus zu bekämpfen, um dadurch das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen.»2
Unterm Strich können die Taliban mit Recht zufrieden sein, dass die Moskauer Konferenz den so genannten «Legitimitätsaspekt» ihrer Regierung praktisch zu einem Nicht-Thema gemacht hat.
Die Alchemie des konstruktiven Engagements ist so stark, dass es schrittweise auf eine De-facto-Anerkennung hinausläuft, insbesondere wenn die UNO eine Geberkonferenz einberufen würde. Alles in allem hat die Moskauer Konferenz dafür gesorgt, dass die verstockte, rachsüchtige Haltung der USA gegenüber den Taliban im Laufe der Zeit unhaltbar sein wird.

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/reflections-on-events-in-afghanistan-29/, 22. Oktober 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»}

1 https://www.mid.ru/en_GB/foreign_policy/news/-/asset_publisher/cKNonkJE02Bw/content/id/4913770
2 https://www.globaltimes.cn/page/202110/1236636.shtml?fbclid=IwAR15yX-33Sv6TflNmDy0979Dm5GR97bgOffbyseye1NNLQZvVQDmEk_utXE

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