Ein amerikanischer Standpunkt

Rasche Übernahme durch die Taliban zeigt, wie wenig die USA Afghanistan verstanden haben

Aus aktuellem Anlass veröffentlicht der «Schweizer Standpunkt» Analysen aus verschiedenen Regionen der Welt zu den Ereignissen in Afghanistan.

Joe Lauria (Bild
Consortium News)

von Joe Lauria*

(23. August 2021) Auch wenn die Taliban bei vielen Afghanen unbeliebt sind, so sind sie doch zumindest Afghanen und keine von ausländischen Besetzern eingesetzte Regierung.

Beamte der Biden-Regierung sagten am Donnerstag [12. August], sie erwarteten, dass die Taliban in 30 Tagen in der afghanischen Hauptstadt eintreffen würden, und schickten Truppen, um die US-Botschaft und US-Zivilisten zu evakuieren. Nur drei Tage später, am Sonntag, überraschten die Taliban Washington mit ihrem Einzug in Kabul. Der afghanische Präsident ist aus dem Land geflohen.

Wie konnten sich die USA nur so sehr irren? Wie konnten die USA 83 Milliarden Dollar für die Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Armee ausgeben, um dann ein derart spektakuläres Scheitern zu erleben?

Antwort: Vom ersten Tag des US-Truppenaufmarsches in 2001 an bis zum Zeitpunkt, an dem die letzten US-Diplomaten Afghanistan verliessen, haben die USA dieses Land nie verstanden und auch kein Interesse daran gehabt, es zu verstehen.

Zweifellos fürchten viele Afghanen nach zwei Jahrzehnten eine Wiederkehr der Taliban-Herrschaft mit ihren drakonischen Vorschriften zu Musik, Kino und Schulausschluss von Mädchen.

Aber es gibt einen Grund, warum das afghanische Militär sich vor den vorrückenden Taliban auflöste und keinerlei Widerstand leistete, obwohl Washington darauf setzte, dass es mindestens einen Monat lang durchhalten würden: Die Taliban mögen verdorben sein, aber sie sind Afghanen. Sie mögen ein unpopuläres, repressives Regime aufstellen, aber sie sind keine ausländische Besatzungsmacht.

«Das afghanische Volk wird das niemals zulassen»

Der frühere afghanische Präsident Hamid Karsai wurde spöttisch als «Bürgermeister von Kabul» bezeichnet. Seine Autorität hörte vor den Toren der Stadt auf. Noch als er an der Macht war, schimpfte er über die Vereinigten Staaten, die sich nicht um das Land kümmerten. «Die Vereinigten Staaten und die NATO haben unsere Souveränität nicht respektiert. Wann immer sie es für angebracht hielten, haben sie dagegen verstossen. Das ist ein ernsthafter Streitpunkt zwischen uns gewesen […]», sagte er 2013.

«Sie verletzen unsere Souveränität und führen im Namen der Terrorismusbekämpfung und der UNO-Resolutionen militärische Angriffe verschiedenster Art gegen unsere Bevölkerung durch. Das widerspricht grundsätzlich unserem Willen», sagte Karzai. «Die USA und ihre Verbündeten, die NATO, verlangen auch nach der Unterzeichnung des BSA [bilaterales Sicherheitsabkommen] weiterhin, dass sie die Freiheit haben, unser Volk, unsere Dörfer anzugreifen. Das afghanische Volk wird das niemals zulassen.»

Die USA mögen die Taliban-Herrschaft verurteilen, aber sie waren massgeblich an ihrer Entstehung beteiligt. In den 1980er Jahren unterstützten sie die Mudschaheddin gegen eine säkulare, von der Sowjetunion gestützte Regierung, die sich für die Rechte der Frauen eingesetzt hatte. Das Vorgehen der USA seit 2001 war zum Scheitern verurteilt. Sie unterstützten die Machthaber in Kabul und die Warlords mit Paletten voll Dollarscheinen und versuchten gleichzeitig, die über ein weitläufiges, gebirgiges Land verstreuten Städte und Dörfer militärisch zu erobern. Warum hätte dies gelingen sollen?

Ein Verbleib der US- und NATO-Truppen im Land hätte bestenfalls zu einer endlosen Pattsituation geführt. Joe Biden wird sogar von etablierten Demokraten für die Ereignisse, die sich in diesem Moment abspielen, «bei lebendigem Leibe gegrillt». Es könnte sogar politischer Selbstmord sein. Aber es war die richtige Entscheidung, sich endlich zurückzuziehen.

Die Taliban mögen Mädchen von der Schule fernhalten und Zivilisten töten. Die USA und ihre NATO-Verbündeten haben jedoch in den zwei Jahrzehnten, in denen sie versucht haben, den «Friedhof der Imperien» [=Afghanistan] zu kontrollieren, afghanische Mädchen und viele Tausende anderer unschuldiger Menschen abgeschlachtet und Gräueltaten begangen. Lesen Sie WikiLeaks' «Afghanisches Kriegstagebuch».1

Motive

Die Amerikaner nannten Afghanistan gern das Vietnam der Sowjetunion. Nun, Afghanistan ist jetzt das zweite Vietnam der USA.

Die Vergleiche sind sogar in den Mainstream-Medien zu finden: Die Unterstützung korrupter Regime in Saigon und Kabul; die Pentagon Papers und die Afghanistan Papers, die zeigen, wie die US-Führung in genau derselben Weise über den Verlauf beider Kriege gelogen hat; und der neueste Vergleich: die Evakuierung der Botschaften in Saigon und Kabul.

Mehr als 45 Jahre, nachdem die USA Saigon in einer demütigenden Niederlage verlassen haben, wird immer noch die Frage gestellt, was die Motive der USA für den Krieg wirklich waren. Waren es wirtschaftliche, strategische, ideologische oder alle drei gemeinsam? Die gleiche Frage kann man sich stellen, wenn nun die USA Kabul aufgrund einer demütigenden Niederlage verlassen.

Ein Hauptgrund schien die Kontrolle über Afghanistans riesigen, unerschlossenen Mineralienreichtum zu sein. Warum sollten die USA diesen zurücklassen? Vielleicht sollte man sich nicht wundern, wenn in nicht allzu ferner Zukunft US-Unternehmen mit den Taliban über Schürfrechte verhandeln. In den 1990er Jahren flog das US-Ölunternehmen Unocal Taliban-Führer nach Houston, um an einem Pipeline-Deal zu arbeiten.

Solche Dinge schienen für die Interessen der USA schon immer wichtiger zu sein als Schulmädchen, die ein Buch lesen.

1 https://wikileaks.org/wiki/Afghan_War_Diary,_2004-2010

Quelle: https://consortiumnews.com/2021/08/15/rapid-taliban-takeover-shows-how-little-us-understood-afghanistan/, 15. August 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

* Joe Lauria ist Amerikaner und Chefredakteur von Consortium News und ehemaliger UN-Korrespondent für das Wall Street Journal, den Boston Globe und zahlreiche andere Zeitungen. Er war investigativer Reporter für die Londoner Sunday Times und begann seine berufliche Laufbahn als freier Journalist für die New York Times. Er ist zu erreichen unter joelauria@consortiumnews.com.

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