Warum sind «humanitäre Korridore» nach Syrien ein Problem?

Rick Sterling (Bild zvg)

von Rick Sterling*

(10. August 2021) Am Freitag, 9. Juli, stimmte der UN-Sicherheitsrat einstimmig einer einjährigen Verlängerung des Grenzübergangs «Bab al Hawa» zu. Als Teil der Vereinbarung1 muss der UN-Generalsekretär regelmässig darüber berichten, was mit den Hilfsgütern geschieht, die in die von Al Qaida beherrschte Zone gehen. Offensichtlich dachten Russland und China, es sei nicht der richtige Zeitpunkt, um auf Prinzipien zu bestehen. Die in diesem Artikel skizzierten Probleme bestehen weiterhin.

Ein Freund schickte mir einen Link zu einem Foreign Policy-Artikel2 über den Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien bei Bab al Hawa. Er fragte: «Ist das korrekt?» Was kann schon falsch sein, wenn es um humanitäre Hilfe geht?

Es gab viele solcher Geschichten, sowohl kurze als auch lange.3 Die Essenz von ihnen allen in den westlichen Medien ist, dass Bab al Hawa aus humanitären Gründen offen gehalten werden muss. Viele der Artikel geisseln Russland oder andere Länder wie China, die gegen eine Erneuerung der UN-Genehmigung für den Grenzübergang stimmen könnten.

Gründe für die Schliessung des Grenzübergangs

Es gibt wichtige Fakten, die in den westlichen Medienberichten typischerweise ausgelassen oder verdreht werden. Hier sind einige Gründe, warum der Grenzübergang Bab al Hawa NICHT weiter offengehalten werden sollte.

– Die Hilfslieferungen unterstützen Syriens Version von Al Qaida, Hayat Tahrir al Sham (HTS). Sie kontrolliert die Region auf der syrischen Seite des Grenzübergangs. Es sind die Ausländer und Hardcore-Extremisten, die 2015 von der Türkei aus in Idlib eindrangen, plus diejenigen, die Aleppo und andere Städte verliessen, als die Militanten von der syrischen Armee besiegt wurden. Selbst wenn die UNO alle Lastwagen inspizieren, die in die Provinz Idlib im Norden Syriens fahren, werden die Lastwagenlieferungen letztlich von der HTS (früher Jabhat al Nusra genannt) kontrolliert.

– Die Hilfe unterstützt in Wirklichkeit die Teilung Syriens. Die Provinz Idlib und die dort herrschende Miliz wollen sich dauerhaft von Syrien trennen. Sie versuchen, die Region durch sektiererische Erziehung, Förderung der türkischen Sprache und sogar Verwendung der türkischen Währung zu turkisieren.4

– Die Hilfe verstösst gegen die UNO-Charta,5 die besagt, dass alle Mitgliedländer es unterlassen sollen, die territoriale Integrität eines anderen Mitgliedstaates zu bedrohen. Die Türkei und die USA verstossen am meisten dagegen, da ihre militärischen Truppen illegal syrisches Land besetzen. Aber es ist eine Schande, dass sich die UNO durch die Genehmigung von Hilfen für die abtrünnige, von Al Qaida dominierte Region mitschuldig macht.

– Die «Hilfe» für den Nordwesten Syriens verlängert den Konflikt, anstatt beizutragen, ihn zu beenden. Es ist offensichtlich, dass die westlichen Mächte, nachdem es ihnen nicht gelungen ist, die syrische Regierung militärisch zu stürzen, nun andere Mittel einsetzen, um Damaskus anzugreifen. Sie mischen sich weiterhin in die inneren Angelegenheiten Syriens ein. Angeführt von den USA greifen sie Syrien wirtschaftlich an, während die Unterstützung in die abtrünnige Region im Nordwesten fliesst.

– Die westliche Hilfe für die von Al Qaida dominierte Region überdeckt den Schmerz, den Schaden und die Zerstörung, die die Sanktionen der USA und Europas bei den meisten Syrern angerichtet haben. Die «Caesar»-Sanktionen,6 die von den USA inmitten der Covid-19-Pandemie verhängt wurden, haben eine horrende Wirkung gehabt. Indem sie die syrische Zentralbank blockiert und jeglichen Handel mit Syrien fast unmöglich gemacht haben, haben die US-Sanktionen die syrische Währung untergraben. Viele Waren haben sich um das 4-, 5- und sogar 10-fache verteuert. Wie ein moderner Gangster haben die USA ganz offen das Öl und den Weizen aus dem Osten Syriens gestohlen. Die USA haben das Stromnetz angegriffen, indem sie die Einfuhr von Ersatzteilen, technische Unterstützung oder Bauarbeiten zur Reparatur oder zum Wiederaufbau von Kraftwerken verboten haben. «Caesar»-Sanktionen verbieten die Unterstützung für alles, was mit der Regierung zu tun hat, einschliesslich Schulen und Krankenhäuser.

Laut einer Resolution7 der UNO-Generalversammlung von Dezember 2020 sind unilaterale Zwangsmassnahmen wie das «Caesar»-Gesetz illegal und eine Verletzung der UN-Charta, des Völkerrechts und der internationalen Menschenrechte. Dennoch ist es aufgrund der globalen wirtschaftlichen Dominanz der USA immer noch in Kraft und die USA beanspruchen das Recht, jedem Land, Unternehmen oder jeder Einzelperson zu verbieten, Syrien zu unterstützen oder mit ihm zu handeln. Dieses Verhalten macht die Behauptungen der USA über humanitäre Anliegen so ironisch und zynisch.

– Die westliche Hilfe für Syrer durch Bab al Hawa ist diskriminierend und dient der Spaltung des Landes. Vor dem Konflikt hatte die Provinz Idlib eine Gesamtbevölkerung von 1,5 Millionen Menschen, heute ist diese Zahl kleiner. Ein Grossteil der Bevölkerung verliess die Provinz, als sie von Extremisten überrannt wurde. Einige flohen in die Türkei; andere flohen in die westlich gelegene Provinz Latakia. Einige Kämpfer der Opposition und ihre Unterstützer zogen es vor, nach Idlib zu gehen, anstatt sich mit der Regierung zu versöhnen. Als zum Beispiel Ost-Aleppo von Regierungssoldaten zurückerobert wurde, wurden Tausende Milizionäre mit ihren Familien8 transferiert – aber nicht Hunderttausende, wie in der Propagandawelle vor der Rückeroberung Ost-Aleppos fälschlicherweise vorhergesagt wurde. Im Gegensatz zu verschiedenen Schätzungen sind also eine Million oder weniger Personen in Idlib geblieben.

– Die Zivilisten im Nordwesten Syriens werden durch Bargeldzahlungen9 und weitaus grössere Hilfsleistungen richtiggehend bestochen, um dort zu leben. Eintausend Lastwagen pro Monat bringen Hilfsgüter in den Nordwesten Syriens. Wie in einem OCHA-Dokument10 vermerkt, werden die Menschen «durch den Zugang zu Dienstleistungen und Lebensunterhalt beeinflusst.» Das ist verständlich, aber die trennende Auswirkung ist auch klar.

– Im Gegensatz dazu gibt es zwischen 14 und 17 Millionen Syrer, die in anderen Teilen Syriens leben. Sie erhalten wenig bis gar keine Hilfe. Stattdessen tragen sie die Hauptlast der grausamen, einseitigen US-Zwangsmassnahmen.

– Die Hilfe für die Zivilbevölkerung in Syrien sollte gerecht und verhältnismässig verteilt werden. Dies kann mit Überwachung oder Aufsicht durch eine angesehene internationale Organisation wie Roter Halbmond/Rotes Kreuz geschehen. Im Einklang mit der UN-Charta sollten westliche Länder die politische Unabhängigkeit der syrischen Regierung respektieren und ihre anhaltende Einmischung und Bemühungen zur Herbeiführung eines «Regimewechsels» einstellen.

Instrumentalisierte «Humanitäre Hilfe»

Es gibt viele westliche NGOs, die über Bab al Hawa schimpfen. Zum Beispiel hat das International Rescue Committee viele Millionen Dollar gesammelt, die eigentlich allen Syrern zugute kommen sollten, es aber nicht taten. Ihre Pressemitteilungen sollte jedoch mit Vorsicht genossen werden, denn laut ihrer Steuererklärung für 2019 sind westliche Regierungen mit 440 Millionen Dollar im Jahr 2019 ihre Hauptgeldgeber. Der CEO, David Miliband, ist mit über eine Million Dollar pro Jahr gut entlöhnt. Wir können sicher sein, dass sie mit dem US-Aussenministerium im Austausch sind.

Humanitäre Hilfe ist ein grosses Geschäft und wurde politisch instrumentalisiert. Während viele wohlmeinende Menschen hart arbeiten, sind auch politische Agenden am Werk.

Wenn Russland und andere Nationen im UN-Sicherheitsrat ein Veto gegen den Ausbau des Bab al Hawa-Übergangs einlegen, gibt es gute Gründe dafür.

* Rick Sterling ist ein investigativer Journalist aus der San Francisco Bay Area. In seinen frühen Jahren war er Vollzeit-Aktivist, arbeitete dann 25 Jahre lang als Ingenieur in der Elektronik- sowie Luft- und Raumfahrtindustrie, vor allem an der University of California, Berkeley, und ist nun wieder vollzeitig dort tätig, wo sein Herz schlägt: bei den progressiven internationalen Anliegen.

Quelle: https://orientalreview.org/2021/07/13/what-is-wrong-with-the-humanitarian-crossing-into-syria/, 13. Juli 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 http://www.xinhuanet.com/english/2021-07/10/c_1310052760.htm

2 https://foreignpolicy.com/2021/07/06/syria-russia-aid-un-security-council/

3 https://www.csis.org/analysis/implications-un-cross-border-vote-syria

4 http://www.xinhuanet.com/english/2021-07/10/c_1310052760.htm

5 https://www.un.org/en/about-us/un-charter/full-text

6 https://original.antiwar.com/rick_sterling/2020/06/19/caesar-tries-to-suffocate-17-million-syrians/

7 https://undocs.org/en/A/RES/75/181

8 https://www.nytimes.com/interactive/2016/12/16/world/middleeast/aleppo-evacuations-video.html

9 https://www.usaid.gov/sites/default/files/documents/06.28.2021_-_USG_Syria_Fact_Sheet_8.pdf

10 https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/nw_syria_and_rataa_situation_report_20210618_0.pdf

Zurück