Erklärung zur Palästina-Frage
Anlässlich des Treffens der «Nordischen Initiative für ein diplomatisches Abkommen in Israel und Palästina»
Edinburgh, 1. September 2025
von Hans Köchler* (Übersetzung aus dem englischen Original)
(12. September 2025) «Die Zeit der Debatten und des Zögerns ist vorbei …» Mit diesen einleitenden Worten verkündete der IPC1 offiziell die Hungersnot in Gaza.2 Diese völlig vermeidbare, vom Menschen verursachte Katastrophe sollte uns zu denken geben. Wie konnte die internationale Gemeinschaft – die unablässig, in Tausenden von feierlichen Proklamationen und Erklärungen, die universellen Werte der Menschheit propagiert – dies nach den unaussprechlichen Schrecken des Zweiten Weltkriegs zulassen?

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Man kann nicht mehr um den heissen Brei herumreden … Die langen Jahre des sogenannten «Friedensprozesses» im Nahen Osten haben sich als verlorene Zeit erwiesen. Die Diplomatie hat leider nur eine trügerische Hoffnung auf Frieden genährt. Auch die Separatfriedensabkommen seit Camp David, einschliesslich der jüngsten sogenannten Abraham-Verträge, haben lediglich eine Illusion von Frieden erzeugt, eine Fehlwahrnehmung, die inzwischen allen klar geworden ist, die verstehen, dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit für alle Völker in der Region geben kann.
Offen gesagt, man kann nicht das Pferd von hinten aufzäumen. Dies ist jedoch das Dilemma praktisch aller Initiativen und Abkommen, die das unveräusserliche Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung ignoriert oder dieses für Verhandlungen über einen «endgültigen Status» in einer immer ferneren Zukunft «beiseitegeschoben» haben.

Die unvermeidliche Folge von Aufschub und Verdrängung der Grundfrage – der Selbstbestimmung – ist, dass die Besetzung der palästinensischen Gebiete sich immer mehr verfestigt hat und immer mehr Land beschlagnahmt wird. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht schnell und entschlossen handelt, wird das Mantra der «Zweistaatenlösung» zu nichts weiter als einer leeren Phrase. Es wird kein zusammenhängendes Gebiet mehr für die Gründung eines lebensfähigen Staates übrig sein, der von denen anerkannt werden könnte, die so viele Jahre gezögert haben, diesen Schritt zu setzen, und die nun versprechen, dies noch in diesem Monat in New York zu tun.
Führende Mitglieder der Regierungskoalition in Israel drohen bereits öffentlich – und stolz – mit der Annexion des Gazastreifens und erklären, dass der Bau neuer Siedlungen im Westjordanland eine Zwei-Staaten-Lösung hinfällig machen werde. In den Worten von Bezalel Smotrich, zitiert von der BBC: «Der palästinensische Staat wird nicht mit Parolen, sondern mit Taten vom Tisch gefegt.»3 Ein israelischer Fernsehsender berichtet, dass der Premierminister derzeit Gespräche «über die Loslösung der Stadt Hebron von der Palästinensischen Autonomiebehörde» führt.4 Bislang ist all dies ohne Gegenmassnahmen auf der Grundlage der erga omnes-Verpflichtungen der Staaten gemäss der Vierten Genfer Konvention geschehen – ungeachtet der Vielzahl leerer Forderungen und Drohungen von Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft, sei es einzeln oder kollektiv.
An der Lähmung der Vereinten Nationen in dieser Angelegenheit wird sich nichts ändern, solange sich an der Politik des mächtigsten Mitglieds des Sicherheitsrates nichts ändert.
1956 war unter der verantwortungsvollen Staatsführung von Präsident Eisenhower das letzte Mal, dass die Vereinigten Staaten es der UNO ermöglichten, einen bewaffneten Konflikt im Nahen Osten zu entschärfen. Die United Nations Emergency Force («internationale Notfalltruppe» der Vereinten Nationen), die auf eine Resolution der Generalversammlung zurückging, welche aufgrund der Blockade des Sicherheitsrates durch die Vetos Frankreichs und Grossbritanniens auf der Basis der „Uniting for Peace“-Formel («Vereint für den Frieden») die Initiative ergriffen hatte, könnte als Modell für eine konstruktive Rolle der UNO in der heutigen Pattsituation im Gazastreifen dienen – wenn nur die Vereinigten Staaten dies zuliessen.
Nach allem, was geschehen ist, kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Die regelbasierte Ordnung, die von den Führern der westlichen Welt angeblich so hoch geschätzt wird, steht auf dem Spiel. Rechtsnormen ohne Durchsetzungsmechanismen sind blosse Wünsche, die von keinem Staat ernst genommen werden. Angesichts der erzwungenen Untätigkeit des Sicherheitsrates darf man sich über den Zustand der internationalen Beziehungen keine Illusionen machen: Das Völkerrecht wird nicht allein auf der Grundlage edler Appelle durchgesetzt. Regierungen, die sich wie NGOs verhalten – eine Erklärung nach der anderen abgeben, aber ängstlich die Umsetzung der darin proklamierten Ziele vermeiden – haben die Tragödie des palästinensischen Volkes nur verlängert.
Ganz ehrlich gesagt, könnte dies auch für die langatmige «New Yorker Erklärung zur friedlichen Regelung der Palästinafrage und zur Umsetzung der Zweistaatenlösung» (New York Declaration on the Peaceful Settlement of the Question of Palestine and the Implementation of the Two-State Solution) gelten, die über Initiative Frankreichs und Saudi-Arabiens am 29. Juli 2025 auf einer «hochrangigen internationalen Konferenz der Vereinten Nationen» verabschiedet wurde.5 Es fehlt jegliche konkrete Verpflichtung zur Umsetzung dessen, was die Unterzeichner fordern.
Solange die Vereinten Nationen dem Recht nicht zur Geltung verhelfen, obliegt es den einzelnen Staaten – oder Staatengruppen –, die Regeln, insbesondere die des humanitären Völkerrechts, durchzusetzen. Tatsächlich ist es die Pflicht und nicht nur das Recht jedes Vertragsstaates gemäss den Genfer Konventionen von 1949 und der Völkermordkonvention, «unter allen Umständen die Einhaltung der Konventionen zu respektieren und sicherzustellen» bzw. «alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um Völkermord so weit wie möglich zu verhindern», wie der Internationale Gerichtshof (IGH) in seiner Entscheidung vom 30. April 2024 im Fall Nicaragua gegen Deutschland bezüglich «internationaler rechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die besetzten palästinensischen Gebiete» bekräftigt hat.6
Angesichts der demografischen Realitäten sind entschiedene Massnahmen auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der europäischen Staaten, denn wenn die Lage in Palästina weiter ins Chaos abgleitet und das palästinensische Volk in einem Krieg, der faktisch zu einem Krieg der ethnischen Säuberung geworden ist, seinem Schicksal überlassen bleibt, könnte der Konflikt auch auf Europa übergreifen.
Bislang sind Länder des Globalen Südens zusammen mit der Türkei die einzigen, die ihre verbindlichen Verpflichtungen aus den oben genannten Konventionen ernst nehmen. In ihrer gemeinsamen Erklärung, die am 16. Juli 2025 in Bogotá auf einem von der Haager Gruppe einberufenen Treffen verabschiedet wurde, haben sich 13 Länder, darunter Kolumbien, Südafrika, Indonesien, Malaysia, Oman und die Türkei, zu dringenden Massnahmen zur Durchsetzung des Völkerrechts in dem vom Sicherheitsrat hinterlassenen Rechtsvakuum verpflichtet. Die Massnahmen umfassen unter anderem: Verhinderung der Lieferung von Waffen, Munition und Dual-Use-Gütern an die Besatzungsmacht in Palästina sowie die Verhinderung des Transits, des Anlegens und der Wartung von Schiffen in allen Häfen innerhalb der territorialen Zuständigkeit der Unterzeichnerstaaten, wenn «ein eindeutiges Risiko besteht, dass das Schiff zum Transport von Waffen, Munition oder militärischem Treibstoff verwendet wird».7
Derzeit sind dies offenbar die einzigen Länder, die den Mut haben, in nennenswertem Umfang vom Wort zur Tat zu schreiten. Daher ist es umso wichtiger, dass jetzt, angesichts der dramatischen Eskalation der humanitären Katastrophe in Gaza und der Gesetzlosigkeit, der gewalttätigen Übergriffe, Landenteignungen im gesamten Gebiet des besetzten Palästinas die Nordische Initiative, deren Vertreter heute hier versammelt sind, Europa – alle seine Regierungen und die Europäische Union als kollektives Gremium – an seine Verantwortung erinnert, das palästinensische Volk zu schützen, und konkrete Schritte fordert ähnlich denen, die von der Haager Gruppe initiiert wurden. Gemeinsam mit diesen Staaten könnte Europa tatsächlich etwas bewirken und all jenen in Palästina und Israel Hoffnung geben, die sich für einen gerechten, und nicht einen Grabesfrieden einsetzen.
Lassen Sie mich mit den Worten von dem damals 18-jährigen Tal Mitnick schliessen, der nach Ausbruch des Krieges in Gaza im Oktober 2023 aus Gewissensgründen den Dienst in der israelischen Armee verweigerte. Er fasste die Notlage der Menschen in Palästina – diesem alten, geschichtsträchtigen Land, in dem trotz aller feierlichen Versprechen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Osmanischen Reiches das Recht auf Selbstbestimmung nur selektiv umgesetzt wurde – klug und prägnant zusammen. Möge Tal Mitnicks nüchterne Einschätzung des Dilemmas – sein realistischer Idealismus oder idealistischer Realismus – uns allen, vor allem aber den Entscheidungsträgern auf beiden Seiten, eine Mahnung sein:
«Dieses Land hat ein Problem – es gibt zwei Nationen, die eine unbestreitbare Verbindung zu diesem Ort haben. Aber trotz aller Gewalt in der Welt konnten wir weder das palästinensische Volk noch seine Verbindung zu diesem Land auslöschen, genauso wenig wie das jüdische Volk oder unsere Verbindung zu demselben Land ausgelöscht werden kann. Das Problem hier ist die Vorherrschaft, der Glaube, dass dieses Land nur einem Volk gehört. Gewalt kann die Situation nicht lösen, weder durch die Hamas noch durch Israel. Es gibt keine militärische Lösung für ein politisches Problem. (…).»8
* Prof. Hans Köchler ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Innsbruck und Präsident der International Progress Organization (I.P.O.), die seit 1977 Konsultativstatus bei den Vereinten Nationen besitzt. |
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(Übersetzung Schweizer Standpunkt)
1 IPC (Integrated Food Security Phase Classification / Integrierte Klassifizierung der Phasen der Ernährungssicherheit), Ausschuss zur Überprüfung der Hungersnot: Gazastreifen, August 2025, «Schlussfolgerungen und Empfehlungen», 1. Zusammenfassung / Wichtigste Punkte, S.2.
2 Die Einschätzung des IPC wird auch vom Famine Early Warning Systems Network (FEWS NET) bestätigt, das von USAID gegründet wurde und nun direkt dem US-Aussenministerium untersteht: Gaza Food Security Alert, 22. August 2025: «Im Norden Gazas herrscht derzeit Hungersnot, die sich voraussichtlich auf den Süden Gazas ausweiten wird.»
3 Originalzitat BBC: «The Palestinian state is being erased from the table, not with slogans but with actions » – «Israel approves controversial West Bank settlement project» (Israel genehmigt umstrittenes Siedlungsprojekt im Westjordanland), David Gritten, BBC NEWS, 20. August 2025.
4 i24NEWS Exklusiv: Netanyahu moves toward replacing the PA (Netanjahu strebt Ersatz der PA an), 29. Juli 2025, https://www.i24news.tv/en/news/israel-at-war/artc-i24news-exclusive-netanyahu-moves-toward-replacing-the-palestinian-authority
5 Vereinte Nationen / Generalversammlung, Dok. A/CONF.243/2025/CRP.1.
6 ICJ, 2024, Beschluss vom 30. April 2024, ALLEGED BREACHES OF CERTAIN INTERNATIONAL OBLIGATIONS IN RESPECT OF THE OCCUPIED PALESTINIAN TERRITORY (NICARAGUA v. GERMANY) (Angebliche VERLETZUNGEN BESTIMMTER INTERNATIONALER VERPFLICHTUNGEN IN BEZUG AUF DAS BESETZTE PALÄSTINENSISCHE GEBIET [NICARAGUA GEGEN DEUTSCHLAND]), Paragraph. 23.
7 Die Haager Gruppe, Gemeinsame Erklärung zum Abschluss der Dringlichkeitskonferenz zu Palästina, Bogotá, Kolumbien, 16. Juli 2025.
8 Tal Mitnick, «There is no military solution – a statement of refusal» (Es gibt keine militärische Lösung – eine Erklärung der Ablehnung), veröffentlicht auf X.com, 26. Dezember 2023.