Überlegungen zum Völkermord als ultimativem Verbrechen

Alfred de Zayas und Richard Falk (Bilder zvg)

von Alfred de Zayas und Richard Falk*

(3. Mai 2021) Der Missbrauch des Wortes «Völkermord» verletzt die Angehörigen der Opfer der Massaker an den Armeniern, des Holocausts und des Völkermords in Ruanda – und erweist sowohl der Geschichte, dem Recht als auch der umsichtigen Gestaltung der internationalen Beziehungen einen Bärendienst.

Wir wussten bereits, dass wir in einem Ozean von «Fake News» [irreführende Nachrichten] treiben. Weitaus gefährlicher ist jedoch, in den turbulenten Gewässern des «Fake Law» [irreführendes Recht] unterzugehen. Wir müssen dem dringend etwas entgegensetzen. Eine solche Entwicklung ist nicht hinnehmbar.

Wir dachten, die Wahl Joe Bidens würde uns vor einer gefährlichen Korrumpierung der Sprache bewahren, wie sie von Donald Trump, John Bolton und Mike Pompeo verbreitet wurde. Wir dachten, dass wir nicht länger frei erfundenen Behauptungen, vorgefertigten Wahrheiten und zynischen Tatsachenverdrehungen ausgesetzt sein würden. Offensichtlich haben wir uns geirrt.

Wir erinnern uns an Pompeos Prahlerei über die Nützlichkeit von Lügen, wir hörten seine aufrührerischen Anschuldigungen gegen Kuba und Nicaragua, seine haarsträubenden Behauptungen, dass die Hisbollah in Venezuela präsent sei, seine exzessiven Auftritte im Auftrag von Trump – alles im Namen von MAGA (Making America Great Again).

Donald Trump und Mike Pompeo haben es nicht geschafft, Amerika wieder gross zu machen. Sie haben es geschafft, die ohnehin schon schlechte Meinung über die USA in grossen Teilen der Welt noch schlechter zu machen: ein Land, das sich kaum je an die Regeln des internationalen Rechts hält. Eine entscheidende Entwicklung in dieser Abwärtsspirale war George W. Bushs Riesenverbrechen: Die unbegründete Invasion und Verwüstung des Irak, die UN-Generalsekretär Kofi Annan mehrfach als «illegalen Krieg» bezeichnete. Wir erlebten Barak Obamas Beteiligung an der Zerstörung Libyens, die durch Hillary Clintons mit imperialer Freude geäusserten, unsäglichen Worte über Gaddafis Tod, einen bitteren Nachhall fand: «Wir kamen, wir sahen, er starb». Wir können Trumps kriminelle Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden nicht vergessen, die ganze Gesellschaften während einer lähmenden Pandemie bestraften. Das waren Verbrechen gegen die Menschheit, die in unserem Namen begangen wurden. Solche Sanktionen erinnerten uns an gnadenlose mittelalterliche Belagerungen von Städten, mit dem Ziel, ganze Bevölkerungen durch Aushungern in die Unterwerfung zu treiben. Wir erinnern uns an die Million ziviler Todesopfer, die durch die deutsche Blockade von Leningrad 1941–44 verursacht wurden.

Nein, um Amerika wieder gross zu machen, ist es widersinnig zu glauben, man könne dies erreichen, indem man sich weiterhin wie ein internationaler Rüpel verhält, der ganze Völker bedroht und verprügelt. Nein, um Amerika in der Welt wieder zu Respekt und Bewunderung zu verhelfen, können und müssen wir mit der Wiederbelebung des Vermächtnisses von Eleanor Roosevelt beginnen. Dies beinhaltet die Wiederentdeckung des Geistes und der Spiritualität der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und das Wiederaufleben lassen des friedensorientierten Humanismus eines John F. Kennedy.

Wir können und sollten von Joe Biden und Antony Blinken [US-Aussenminister] mehr verlangen. Frei erfundene Behauptungen über «Völkermord» in Xinjiang, China, sind eines jeden Landes unwürdig, und vor allem eines Landes, das sich als oberster internationaler Verfechter der Menschenrechte aufspielen will. Raphael Lemkin (1900–1959) würde sich im Grab umdrehen, wenn er erfahren würde, dass das Verbrechen des «Völkermords» so krass instrumentalisiert wird, um die Anti-China-Stimmung zu verstärken. Das plötzliche Aufflammen des US-Interesses am Schicksal des uigurischen Volkes ist kaum von Mitgefühl oder der Sorge um die Menschenrechte getragen – viel eher entspringt es den zynischsten Seiten eines machiavellistischen Bühnenmanuskripts der Geopolitik.

Völkermord ist im Völkerrecht ein klar definierter Begriff – im Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 und in Artikel 6 des Rom-Statuts des Internationen Strafgerichtshofs. Die angesehensten internationalen Gerichtshöfe haben sich unabhängig voneinander darauf geeinigt, dass der Beweis für das Verbrechen des Völkermordes von einer äusserst überzeugenden Präsentation von Fakten abhängt. Diese müssen auch den «Vorsatz» dokumentieren, nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen ganz oder teilweise zerstören zu wollen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda, der Internationale Gerichtshof – sie alle haben sich bemüht, massgebliche Belege für den «Vorsatz» zu liefern. Sie behandeln den «Vorsatz» als das wesentliche Element des Verbrechens «Völkermord». Von dieser Rechtsprechung sollten sich unsere Politiker leiten lassen, um zu umsichtigen Schlussfolgerungen darüber zu gelangen, ob es glaubwürdige Gründe für den Vorwurf des Völkermordes gibt, denn dieser Begriff wirkt immer aufrührerisch. Wir sollten uns immer fragen, wie die Faktenlage ist, eine unabhängige internationale Untersuchung fordern, gefolgt, falls nötig, von weiteren Massnahmen. In einer atomar bewaffneten Welt sollten wir äusserst vorsichtig sein, eine derartige Anschuldigung zu erheben.

Mike Pompeos Behauptung, China würde in Xinjiang Völkermord begehen, wurde nicht einmal durch einen Hauch von Beweisen gestützt. Es war ein besonders unverantwortliches Beispiel für ideologisches Getue in seiner schlimmsten Form und ausserdem eine Umsetzung rücksichtsloser Geopolitik. Deshalb ist es für uns so schockierend, dass der Menschenrechtsbericht des US-Aussenministeriums von 2021 den «Völkermord»-Vorwurf in seiner Zusammenfassung aufführt, ohne diesen provokativen Vorwurf im Hauptteil des Berichts überhaupt zu erwähnen. Dies ist eine unverantwortliche, unvernünftige, unprofessionelle, kontraproduktive und vor allem gefährlich aufrührerische Anschuldigung, die leicht ausser Kontrolle geraten könnte, wenn China sich entscheiden sollte, in gleicher Weise zu reagieren. China stünde auf festerem Boden als Pompeo oder das Aussenministerium, wenn es die USA des «andauernden Völkermordes» gegen die ursprünglichen Bewohner des amerikanischen Kontinents (First Nations of the Americas), wie Cherokees, Sioux, Navajo und viele andere Stammesnationen beschuldigen würde. Wir können uns nur die wütende Gegenreaktion vorstellen, wenn es China gewesen wäre, das als erstes das unverblümte Gerede vom Völkermord in den Raum gestellt hätte.

Indem sie unbegründete Behauptungen aufstellt, untergräbt die US-Regierung ernsthaft ihre eigene Autorität und Glaubwürdigkeit, die nötig wäre, um ihre Rolle als globale Führungsmacht wiederzubeleben. Diese konstruktive internationale Rolle spielt man nicht, indem man die Menschenrechte gegen China – oder Russland – als «Waffe» benutzt. Eine Aussenpolitik, die der echten Förderung der Menschenrechte verpflichtet ist, würde eine internationale Zusammenarbeit bei der Durchführung zuverlässiger Untersuchungen von groben Menschenrechtsverletzungen und internationalen Verbrechen fordern, wo immer sie vorkommen – sei es in Indien, Ägypten, China, Russland, der Türkei, Saudi-Arabien, Myanmar, Jemen, Brasilien oder Kolumbien. Wir hoffen, dass Bidens Regierung in Washington selbstbewusst genug ist, um sogar Untersuchungen zu akzeptieren, die als Reaktion auf Anschuldigungen von Verstössen der USA und ihrer engsten Verbündeten in Europa und anderswo verlangt werden.

Die orwellsche Korruption der Sprache durch US-Regierungsbeamte, die Doppelmoral, die Verbreitung von «Fake News» durch die Mainstream-Medien, einschliesslich der «Qualitätspresse» und CNN – sich selbst als «der vertrauenswürdigste Name in Sachen Nachrichten» bezeichnend – untergraben unsere Selbstachtung. In der Tat untergräbt die Manipulation der öffentlichen Meinung unsere Demokratie. Wir erliegen dabei den Übertreibungen der Fehler anderer, die der feindlich gesinnten Propaganda einen zusätzlichen Biss verleihen und die Welt an den Rand eines bedrohlichen geopolitischen Abgrunds führen und dabei die Aussichten auf einen neuen kalten Krieg erhöhen – oder Schlimmeres.

In diesem Zusammenhang nehmen wir zur Kenntnis, dass Präsident Joe Biden nun im Namen der Regierung der Vereinigten Staaten sein Wahlkampfversprechen einlöste, indem er das, was der armenischen Gemeinschaft 1915 widerfuhr, als «Völkermord» bezeichnete. Wir erinnern jedoch daran, dass das Nürnberger Urteil ganz klar besagt, dass einer Handlung, die rechtlich als internationales Verbrechen eingestuft werden soll, die Verabschiedung der entsprechenden Rechtsnorm vorausgegangen sein muss. Andernfalls würde es sich um einen Fall von rückwirkender Kriminalisierung handeln. Wie wir wissen, war das Wort «Völkermord» eine sprachliche Neuerung der 1940er Jahre, und es wurde erst durch die Verabschiedung des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes im Jahr 1948 kriminalisiert. Natürlich steht es Historikern frei, zu untersuchen, ob – wenn dieses Übereinkommen 1915 in Kraft gewesen wäre – die Elemente des Verbrechens des Völkermords vorhanden gewesen wären, ob die historischen Beweise und das Element der «Absicht, ganz oder teilweise zu zerstören» gerichtlich festgestellt werden könnten.

Quelle: https://www.counterpunch.org/2021/04/23/reflections-on-genocide-as-the-ultimate-crime vom 28. April 2021

* Alfred de Zayas ist Anwalt, Publizist, Historiker, Experte auf dem Gebiet der Menschenrechte und des Völkerrechts und hochrangiger Amtsträger der UNO i.R.

Richard Falk ist emeritierter Professor für Völkerrecht an der Princeton University und ausserordentlicher Gastprofessor für Globale und Internationale Studien an der University of California, Santa Barbara.

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